50 Jahre Leuenberger Konkordie – Ein Modell für Eucharistische Gastfreundschaft in der Ökumene
Sehr geehrte Zweite Landtagspräsidentin Gabriele Kolar und alle Mitglieder des steiermärkischen Landtages, sehr geehrter Kanonikus Leibnitz, lieber Christian, und alle Mitglieder im von dir geleiteten Ökumenischen Forum christlicher Kirchen in der Steiermark,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, ich bedanke mich herzlich für die Einladung, beim heurigen Jahresempfang die Festrede halten zu dürfen.
Warum die Wahl auf mich gefallen ist, dürfte sich sehr bald klären lassen: Es geht um Leuenberg und die nach diesem Tagungsort in der Nähe von Basel vor genau 50 Jahren unterzeichnete Konkordie und die GEKE, die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, deren Generalsekretär ich von 2006 bis 2018 sein konnte.
Ich darf und soll also über die Ökumene sprechen. Zuerst und aus dem gegebenen Anlass heraus – 50 Jahre Leuenberg – über die kleine innerevangelische Ökumene, also das Miteinander der verschiedenen aus der Reformation hervorgegangenen Traditionen, lutherisch, reformiert, methodistisch und dazu auch die italienischen Waldenser und die tschechischen Böhmischen Brüder, die sich auf Reformationen lange vor Luther, Zwingli, Calvin oder John Wesley zurückführen. Also das im ersten Teil.
Dann kommt der zweite, in dem es auch um die Ökumene gehen wird. Jetzt eher so, wie wir es gewohnt sind, also römisch-katholisch, orthodox, evangelisch, freikirchlich. Zum Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich gehören 17 Mitgliedskirchen (davon 3 mit beratender Stimme), zum Ökumenischen Forum in der Steiermark gehören 9 Mitglieder und 2 mit beratender Stimme, doch zum World Council of Churches, dem 1948 gegründeten Weltkirchenrat gehören heute 352 Mitgliedskirchen – ohne die Römisch-katholische Kirche, die wohl in Österreich und hier in der Steiermark, nicht aber auf Weltebene Mitglied der Ökumenischen Organisationen, der „fellowship of churches“ ist, aber natürlich auf andere Weise mit allen Kirchen in verschiedenen Bereichen eng zusammenarbeitet.
Nun, dann braucht eine ordentliche Festrede natürlich einen dritten Teil, den ich ebenfalls gerne beisteuern will. In diesem dritten Teil wird es ebenfalls um eine Ökumene gehen, aber jetzt ein einem weltlichen Zusammenhang. Es geht um Europa und um die Rolle, die unsere Kirchen in Europa heute spielen oder vielleicht besser: spielen könnten und auch sollten. Wie und ob man wirklich das Europa von heute mit der Ökumene der Kirchen vergleichen kann, verrate ich jetzt natürlich noch nicht. Wir werden es sehen.
Aber alles der Reihe nach:
Teil 1: Die Leuenberger Konkordie
Am Freitag, 16. März 1973 wurde nach mehrjähriger Vorarbeit die Leuenberger Konkordie unterzeichnet und dann - so war es ausgemacht - den beteiligten Kirchen zur Ratifizierung zugeschickt. Damit wurde eine fast 450 Jahre dauernde innerevangelische Konfliktgeschichte und Spaltung endgültig beendet.
Zur Erinnerung: Die Reformation des 16. Jahrhunderts hatte zwei wichtige Strömungen. Die eine ging auf Martin Luther zurück, die andere auf Ulrich Zwingli und später Johannes Calvin in der Schweiz. Die erste wurde die lutherische genannt, die zweite die reformierte, oder calvinistische oder im englischen Sprachraum presbyterian. Um das Anliegen der Reformation zu stärken gab es bald Bestrebungen, die beiden Ströme zusammenzuführen. In Marburg kam es 1529 zum entscheidenden Dialog zwischen Luther und Zwingli. Eine Einigung schien in erreichbarer Nähe, in vielen Punkten bestand ja große Übereinstimmung. Nur in einem, dem letzten nicht: Das Abendmahl. Was ist es? Wie können wir es verstehen? Einig war man sich in Marburg nur, dass die katholische Deutung seit dem 4. Laterankonzil (1215) mithilfe der Vorstellung der Transsubstantiation nicht übernommen wird. Aber darüber hinaus waren sich Luther und Zwingli uneins und gingen so auseinander. Es gab also kein gemeinsames Abendmahl von reformierten Evangelischen mit lutherischen Evangelischen, und das bis ins 20. Jahrhundert. Die Kirchen hatten sich sogar gegenseitig verurteilt und diese Verurteilungen in ihre Bekenntnisschriften aufgenommen.
Das war ein untragbarerer Zustand, theologisch höchst unbefriedigend und auch extrem unpraktisch. Denken Sie nur daran, was passiert, wenn Evangelische von der Schweiz nach Württemberg übersiedeln oder von Norwegen nach Schottland. Sie können nicht mehr zum Abendmahl! Oder in gemischt-konfessionellen Familien, die nicht gemeinsam zum Tisch des Herrn gehen können. Die seit der Reformationszeit gewachsene Spaltung zwischen Lutherischen und Reformierten, die in zahlreichen Ländern das kirchliche Leben nach wie vor bestimmte, sollte endlich überwunden werden. Es war vor allem die gemeinsame Erfahrung des deutschen Kirchenkampfes und des Zweiten Weltkriegs, die die Kirchen nach 1945 dazu brachte, nach Wegen zur Überwindung der Trennung zu suchen. In Deutschland hatte die Barmer Theologische Erklärung schon 1934 Lutheraner, Reformierte und Unierte zu einem gemeinsamen Zeugnis zusammengeführt. Auch in anderen Ländern, etwa in den Niederlanden, in Frankreich und den USA, führten lutherisch-reformierte Gespräche in den 1950er und 1960er Jahren zu gemeinsamen Erklärungen.
In Europa kam es zunächst von 1955 bis 1967 zu einer Reihe von Gesprächen zu denen 88 europäische evangelische Kirchen eingeladen waren. Für unsere Kirche in Österreich nahm Prof. Wilhelm Dantine (1911-1981) an diesen Leuenberger Gesprächen teil. Es ging vor allem um die Frage, ob die bestehenden und bleibenden Unterschiede heute noch dieselbe kirchentrennende Wirkung haben müssen wie in der Vergangenheit? Die Antwort war letztlich: Nein. Nicht alles, was uns unterscheidet, muss uns auch trennen. Die Delegierten erstellten einen Textentwurf, den sie ganz bewusst „Konkordie“ nannten. Damit sollte ein Einigungstext bezeichnet sein, der bewusst Unterschiede im Bekenntnis zulässt und nicht selbst ein neues Bekenntnis sein will. Die Konkordie ist also kein neues Bekenntnis, sie lässt sich vielmehr als eine „Brücke“ zwischen den Bekenntnissen verstehen, die die Trennung überwindet.
Gleich nach ihrer Fertigstellung wurde die Konkordie den beteiligten Kirchen zur Unterzeichnung zugesandt. Die Evangelische Kirche H.B. in Österreich hat als 25. Kirche unterzeichnet, die Evangelische Kirche A.B. in Österreich brauchte wegen des Widerstandes des damaligen Bischofs Oskar Sakrausky ein wenig länger. Sie wurde die 48. zustimmende Kirche.
Die lutherischen, reformierten und die aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie die Kirchen der Waldenser in Italien und der Böhmischen Brüder in der Tschechischen Republik konnten mit der Zustimmung zur Konkordie feststellen, dass sie von den in ihren Bekenntnisschriften ausgesprochenen gegenseitigen Lehrverurteilungen nicht mehr getrennt werden.
Der Grundgedanke war: Die Unterschiede bleiben wohl bestehen, aber sie trennen die Kirchen nicht mehr. Das scheint mir eine grundlegend wichtige Einsicht zu sein: Nicht jeder Unterschied ist trennend oder gar spaltend, die meisten Unterschiede sind einfach ein Zeichen der Vielfalt, der Diversität und Buntheit von allem Lebendigen, damit eben auch von Kirchen. Später hat man dann dafür eine Parole aus der Ökumene übernommen und spricht seither gerne von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, auf Englisch: „unity in reconciled diversity“, wobei stets betont wurde und wird, das jeder der drei Begriffe seine spezielle und nicht wegzudenkende Bedeutung hat und mit Leben gefüllt werden muss: Einheit ist ohne Verschiedenheit nicht zu denken, aber die Verschiedenheit muss zuvor versöhnt sein, ehe sie der Einheit dienen kann. Weil es eine versöhnte Verschiedenheit ist – und nur, weil es eine versöhnte Verschiedenheit ist, wird Einheit möglich. Versöhnt ist nicht nur ein schmückendes und gewiss auch gern gehörtes Adjektiv, sondern auch für sich ein hoher Anspruch. Denn wirkliche Versöhnung gibt es nur auf der Basis von Wahrheit und Gerechtigkeit. So zumindest die Erfahrungen aus der Versöhnungsarbeit in Südafrika, in Nordirland oder im ehemaligen Jugoslawien und überall, wo Versöhnungsarbeit geleistet worden ist.
Wie wird auf dieser Grundlage, in diesem Modell Kirchengemeinschaft möglich? Die Konkordie hält fest: Dazu braucht es ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums. Das Evangelium ist das Fundament der Kirche, die Kirche ist ein Geschöpf des Evangeliums. Also die gute Nachricht, die frohe Botschaft von der freien Gnade Gottes, die uns allein in Jesus Christus geschenkt wird und die wir allein durch den Glauben, also durch Vertrauen, in unserem Leben wirksam werden lassen. Ich habe jetzt in hoffentlich nicht allzu verantwortungsloser Eile die Grundprinzipien der Reformation genannt, also sola gratia, allein die Gnade, sola fide, allein durch den Glauben, solus Christus, allein in Jesus Christus und das alles bezeugt sola scriptura, allein durch die Schrift, also die Bibel.
Wo Kirchen ein gemeinsames Verständnis dieses Evangeliums teilen, treten die Unterschiede in den Hintergrund und verlieren ihre trennende Wirkung. Kirchengemeinschaft wird möglich. Kirchengemeinschaft bedeutet zuerst einmal die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, die die gegenseitige Anerkennung der Ämter einschließt. Kirchengemeinschaft bedarf der kontinuierlichen Verwirklichung, der Vertiefung und Weiterarbeit. Sie ist eine Gabe, die immer zur Aufgabe wird.
Evangelischen in Österreich wird das ganz vertraut und selbstverständlich vorkommen. Hier leben Lutherische und Reformierte seit Generationen zusammen, nicht selten auch in einer Gemeinde, die dann die Bezeichnung „A. und H.B.“ trägt.
Sie wissen, dass überall, wo die Habsburger das Sagen hatten, die Lutherischen nicht lutherisch, sondern evangelisch A.B. und die Reformierten nicht reformiert, sondern evangelisch H.B. heißen. Das gilt also von Teschen/Ciezyn in Polen, dem alten Schlesien bis nach Meran und von Bregenz bis nach Kronstadt/Brasov in Rumänien/Siebenbürgen. Österreichische Spezialität, die man nicht mehr überall versteht.
Und dann noch A. und H.B.! Hier übernehmen reformierte Pfarrer:innen Gemeinden der lutherischen Kirche und lutherische Pfarrer:innen Gemeinden der reformierten Kirche. Diakonie und Religionsunterricht hat es sowieso immer nur gemeinsam gegeben. Daher überrascht es nicht, dass anfangs behauptet worden ist, die evangelischen Kirchen Österreichs hätten die Konkordie eigentlich gar nicht gebraucht und sie hätte auch für die Evangelischen hierzulande nichts Neues gebracht.
Solche ernüchternden Einschätzungen zur Leuenberger Konkordie waren in den ersten Jahren und Jahrzehnten öfter zu hören und zu lesen, sie zeigen aber durchwegs, dass ihr Zukunftspotential anfangs auch von ihren Befürwortern und Förderern nicht vollständig erkannt werden konnte. Aber die gelebte Kirchengemeinschaft überzeugte auch die anfangs Skeptischen und es kamen im Lauf der Zeit weitere Kirchen zur GEKE dazu: Ich erwähne besonders die Evangelisch-methodistischen Kirchen in Europa, die seit 1997 dabei sind.
Heute sind es weit mehr als 100 Kirchen! Als jüngste dazugekommen ist die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine (DELKU). Sie war bisher im Bund der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland und anderen Staaten (ELKRAS) in der GEKE vertreten. Bereits seit 2019 wurde das diskutiert und der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 beschleunigte den Prozess: Im Frühling 2022 stellte die DELKU den Antrag auf eigene Mitgliedschaft und im September 2022 wurde dem von Seiten der GEKE zugestimmt.
In Österreich arbeiten die drei evangelischen Mtgliedskirchen der GEKE, also die Kirche A.B., die Kirche H.B. und die evangelisch-methodistische Kirche, eng zusammen, sowohl in der Diakonie wie auch im Religionsunterricht. Sie haben 1958 mit den Altkatholiken den Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich gegründet, sie haben das 500jährige Reformationsjubiläum im Jahr 2017 gemeinsam gefeiert, veranstalten miteinander Reformationsempfänge und Tagungen für Pfarrer:innen und leben die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft.
Dass sich die Kirchengemeinschaft auf Basis der Leuenberger Konkordie so entwickeln würde, hätte bei ihrer Unterzeichnung vor 50 Jahren wohl kaum jemand vorherzusagen gewagt. Der Konkordie wurde ein leiser Auftritt, aber eine tiefe Langzeitwirkung zugeschrieben.
Teil 2: Das evangelische Ökumenemodell
Mit der „Leuenberger Konkordie“ ist auch die Grundlage gelegt worden für das „evangelische Ökumenemodell“, das die Einheit der Kirchen verwirklicht und lebt. Die Kirchengemeinschaft auf Basis der Leuenberger Konkordie wird zutreffend als das „evangelische Ökumenemodell“ bezeichnet. Im Unterschied zu anderen Vorstellungen von der Einheit der Kirche lässt es sich verwirklichen und mit Leben erfüllen. Der Beitritt der Methodisten zur Kirchengemeinschaft zeigt überdies, dass die Kirchengemeinschaft nach diesem „evangelischen Ökumenemodell“ nicht auf Kirchen der Reformationszeit beschränkt ist. Sie lässt sich auf andere Traditionen übertragen.
Weil sie sich ihrer Verantwortung für die Ökumene aller christlichen Kirchen bewusst ist und ihre Kirchengemeinschaft als Beitrag zur größeren Ökumene versteht, hat die GEKE ökumenische Dialoge geführt und tut dies weiterhin mit großem Einsatz. Hier sind die Gespräche mit den Baptisten, mit den Orthodoxen Kirchen in Europa und mit der Anglikanischen Kirche zu erwähnen. Seit der letzten Vollversammlung in Basel 2018 führt die GEKE auch ganz offiziell einen Dialog mit der Römisch-katholischen Kirche.
Wir wissen uns alle der Bitte Jesu aus dem Johannesevangelium verpflichtet, „dass sie eins sein sollen“. Ut unum sint – so hieß die Ökumeneenzyklika von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1995. Aber was können wir unter Einheit verstehen? Die Römisch-katholische Kirche hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ unmissverständlich von jeder „Rückkehr-Ökumene“ Abschied genommen. Wir sind nicht mehr, wie noch davor, die getrennten Brüder und Schwestern, die in den Schoß der einen, der einzigen wahren Kirche zurückzukehren hätten. Im Gegenteil finden sich auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche, also in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, Elemente der wahren, der einen, apostolischen, heiligen und katholischen Kirche, wie etwa die Taufe, die ja seither anerkannt ist.
Ebenso selbstverständlich würden Evangelische heute keinesfalls mehr davon ausgehen, dass die katholische Kirche von allem Abschied zu nehmen hätte, was sie ausmacht, damit wir zur Einheit finden. Für uns ist ja genug („satis est“), dass das Evangelium recht verkündigt wird und die Sakramente so gefeiert werden, wie Jesus sie eingesetzt hat. Diese Überzeugung aus dem Augsburger Bekenntnis von 1530 hat die Leuenberger Konkordie ganz bewusst aufgegriffen.
Aber was kann jetzt die Einheit sein? Ist es so etwas wie eine Kirchengemeinschaft? Nicht Unio, sondern eine Communio? Doch wie verstehen wir die Kirche? Wie das geistliche Amt, das Priesteramt, das Bischofsamt, das evangelische ordinierte Amt, das Männer und Frauen in gleicher Weise als Pfarrer und Pfarrerinnen ausüben? Hier zeigen sich Differenzen, die bis heute nicht überwunden werden können.
Eine besondere Rolle spielt dabei natürlich das Abendmahl, die Eucharistie, die Kommunion, die die communio sichtbar machen könnte. Die Konkordie sagt dazu: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er läßt uns neu erfahren, daß wir Glieder an seinem Leibe sind. Er stärkt uns zum Dienst an den Menschen.“
Was hier in knappen Worten gesagt wird, kann die Grundlage sein dafür, dass Katholische und Evangelische das Abendmahl, die Eucharistie theologisch in gleicher Weise verstehen. Trotzdem können wir nicht gemeinsam feiern. Der Grund ist das bleibend trennende unterschiedliche Kirchen- und Amtsverständnis.
Aber auch wenn es uns noch nicht möglich ist, gemeinsam zu feiern, könnten wir uns doch gegenseitig im Sinne einer eucharistischen Gastfreundschaft einladen. Ich denke an die evangelischen Ehepartner:innen katholischer Christ:innen. Sie sind ja bereits durch das Sakrament der Taufe und nicht selten auch durch das der Eheschließung, wenn es sich um eine katholische kirchliche Trauung handelt, miteinander verbunden. Beim dritten Sakrament – der Eucharistie – werden sie allerdings wieder voneinander getrennt. Ist es unangemessen, wenn ich mir für diese Christ:innen eine Lösung im Sinne der Gastfreundschaft wünsche?
Nun, wie die Politik nach Max Weber ist gewiss auch die Ökumene ein geduldiges Bohren harter Bretter, mit Leidenschaft und Augenmaß und mit dem festen Glauben, dass der Heilige Geist uns schon lange als eins sieht und dass wir in Jesus Christus immer schon eins sind. Es ist Zeit für die versöhnte Verschiedenheit. Im festen Blick auf Jesus sind wir berufen, „vereint in den Unterschieden voranzugehen, es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.“ Das sagte Papst Franziskus in seiner Predigt in der Lutherischen Kirche in Rom am 15. November 2015. Wir haben mehr gemeinsam, als uns trennt und schätzen die „Ökumene der Gaben“, die wir miteinander austauschen in Geben und Empfangen.
Teil 3: Jetzt noch einige Gedanken zu Europa:
„Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, „unity in reconciled diversity“, drückt unter den Kirchen das aus, was seit dem Jahr 2000 als Motto und Leitspruch der EU gilt: „In Vielfalt geeint“, „united in diversity“ auf Englisch oder auf Lateinisch „in varietate concordia“.
In jeder Übersetzung klingen Parallelen zum Leitspruch der Gemeinschaft evangelischer Kirchen an.
Diese Parallelität hat 2007 anlässlich der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Sibiu/Hermannstadt in Siebenbürgen/Rumänien Jose Manuel Barroso, damals Kommissionspräsident der EU, in seinem Grußwort aufgegriffen. Zuerst hält er fest, dass der gemeinsame Markt allein keine wirkliche Integration bilden kann – so wichtig die wirtschaftliche Dimension auch ist. Schon 1992 hatte Jacques Delors den Slogan geprägt, „Europa eine Seele geben“ und seitdem ist immer deutlicher geworden, dass die kulturelle Vielfalt in Europa mehr und mehr geschätzt werden muss, um eine wirkliche Integration zu erreichen.
Auf diesem Hintergrund sagte Barroso: „Eine Gemeinschaft, die sich auf die geographischen und wirtschaftlichen Dimensionen reduziert, mangelt es an Einheit. Nut Teilhabe an gemeinsamen Werten konnte einer politischen Größe wie der EU Substanz geben.“ Und dann weiter: „Ich bin sicher, dass Europa auf Ihren Beitrag (= den Beitrag der Kirchen, M.B.) zählen kann, damit wir die Spaltungen überwinden und die ersehnte Einheit in Vielfalt, oder, wie es im ökumenischen Zusammenhang häufig heißt, die ‚versöhnte Verschiedenheit‘ herstellen können.“
In der Ökumene gab es nach 1945 große Neuerungen: Zuerst wurde 1948 in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet. Für Europa galt es, die Folgen der Spaltung des Kontinents im Kalten Krieg für die Kirchen zu bedenken und darauf in geeigneter Weise zu reagieren. Letztlich kam es 1959 in Nyborg/Dänemark zur Gründung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), heute mit Sitz in Brüssel. Die Mitgliedskirchen der GEKE wissen sich in Europa auf politischer Ebene durch die KEK vertreten. Die KEK führte gemeinsam mit dem Rat der (katholischen) europäischen Bischofskonferenzen CCEE die drei Europäischen Ökumenischen Versammlungen durch, die erste 1989 in Basel, die zweite – wie sich bestimmt einige erinnern – 1997 hier in Graz unter dem Leitwort der „Versöhnung“ und die dritte dann 2007 in Hermannstadt/Sibiu.
Der Grazer Versammlung verdanken wir die Anregung zum Begehen einer alljährlichen Schöpfungszeit und die Verabschiedung einer Charta Oecumenica, die wesentliche Leitlinien des gemeinsamen Wirkens der Kirchen in und für Europa festschrieb.
Die europäische Einigung trug wohl zu Beginn im Kontext des Kalten Krieges stark die abgrenzenden Intentionen des christlichen Abendlandes gegenüber dem kommunistischen Osten, aber spätestens nach 1989 änderte sich das grundlegend. Das nach innen und nach außen wachsende Europa wurde zu einem zukunftsgewandten Friedens- und Wohlstandprojekt, dem wie ich meine völlig zurecht im Jahr 2012 der Friedensnobelpreis zuerkannt worden ist. Ein gemeinsames Haus sollte dieses Europa sein, ein oikos, also auch wieder eine Art von Oikumene.
Beide Versprechen – sowohl das des Friedens, wie das des Wohlstandes – sind aber mittlerweile in Frage gestellt. Es gibt Krieg nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern auf europäischem Boden, beginnend mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien bis hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Die EU befindet sich in einer andauernden kritischen Phase. Im selben Jahr 2007, in dem Jose Manuel Barroso in Sibiu die Einheit in Vielfalt und das Projekt Europa in positivem Lichte schilderte, wurde der Vertrag von Lissabon unterzeichnet. Aber ob es einfach immer weiter aufwärts gehen würde? Jürgen Habermas veröffentlichte auch im Jahr 2007 einige kritische Texte zu Europa und gab dem Bändchen den bezeichnenden Titel „Ach, Europa“. Ein Seufzer. Und das Seufzen ist stärker geworden nach 2007. Finanz- und Bankenkrise, Flüchtlingskrise, die Annexion der Krim, der Brexit, Krieg gegen die Ukraine, stockende Erweiterung auf dem Westbalkan, Erstarken rechtspopulistischer EU-kritischer bis ablehnender Kräfte in fast allen Ländern Europas und und und.
Seit dem Terrorüberfall der Hamas mit mehr als tausend jüdischen Opfern und allen Folgen schnellt der Antisemitismus auch bei uns erschreckend hoch. Jüdinnen und Juden leben in vielen Ländern, auch mitten unter uns in Furcht. Das dürfen die Kirchen, die Christinnen und Christen, einfach nicht hinnehmen. Es ist ein unerträgliches Zustand.
Ja, man will gar nicht mehr aufhören zu seufzen.
Auch der Blick in die Zukunft bietet heute wenig Grund zum Optimismus.
Eines ist gewiss, und mit dieser ernüchternden Enttäuschung komme ich zum Schluss: Das Leben in der Pluralität, Demokratie und Freiheit in Verantwortung, das ist leider sehr, sehr anstrengend. Deshalb ist auch Europa anstrengend und auch unbequem. Aufgrund unseres Glaubens sehen wir das ganz nüchtern. Uns muss niemand Rosengärten, blühende Landschaften oder, wie man hier sagen könnte, eine „gmahte Wiesn“ versprechen. Wir sind als Christinnen und Christen keine Optimisten. Ob alles gut wird? Wer traut sich das zu sagen? Die Geschichte geht voran, ganz gewiss, aber sie tut das nicht geradlinig und linear, sondern oft verwinkelt und überraschend. Gerade wenn wir auf die jüngere Geschichte Europas blicken, scheint sich das zu bestätigen. Wie zerbrechlich die europäische Einigung ist oder wie widerstandsfähig sie sich erweisen wird, das steht noch dahin. Mut und Zuversicht kann aber doch geben, dass sie sich in den vergangenen Krisen zumeist eher als widerstandsfähig als als zerbrechlich erwiesen hat. Manche behaupten sogar, dass Europa durch Krisen stärker wird. Aber weil unsere Zukunft in Gottes Hand liegt, können wir darauf vertrauen, dass er es gut macht. Und uns dann auch selber bemühen, es halbwegs gut hinzukriegen.
Die Evangelischen sind in Europa in einer sehr deutlichen Minderheit. In den Mitgliedskirchen der GEKE leben rund 50 Millionen Menschen, das sind ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung der EU.
Also Diaspora. Diaspora heißt: Zahlenmäßige Minderheit, die sich nicht nur für sich selbst und die eigenen Mitglieder, sondern für das Ganze verantwortlich weiß. Traditionellerweise nehmen evangelische Kirchen diese Verantwortung für das Ganze durch Diakonie und Bildung wahr und dadurch, dass sie sich in die öffentlichen Diskussionen der Anliegen, die alle betreffen, aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus einbringen. Sie betreiben also eine Öffentliche Theologie.
Die Evangelischen in Österreich haben schon seit Generationen Erfahrungen als Diasporakirchen machen können. Sie leben – wie es Wilhelm Dantine einmal genannt hat – ein protestantisches Abenteuer in nichtprotestantischer Umwelt. Sie sind Diaspora – also ausgestreut wie die Weizenkörner im Ackerfeld der Welt.
Die Evangelischen Kirchen der GEKE kommen im nächsten September 2024 zu ihrer Vollversammlung in Sibiu/Hermannstadt zusammen. Das Motto ist: „Im Lichte Christi – berufen zur Hoffnung“.
Was haben wir anstelle eines oberflächlichen Optimismus einzubringen? Es ist die Hoffnung. Sie wird uns zugemutet, nicht um unseres eigenen Seelenheils und Seelenfriedens willen, sondern – wie es Walter Benjamin formuliert hat - um der Hoffnungslosen willen. Für sie hoffen wir. Europa ist für die Evangelischen ein Zukunftsprojekt.
So wollen wir als Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger gemeinsam mit allen anderen Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträgern unseren Beitrag zum Miteinander der Kirchen und Religionen und zum Europa von morgen geben.